Navigli in Mailand

Wasser ist Lebenselixier. Zweifellos sind Flüsse und Kanäle die Lebensadern der Städte. Das gilt auch für Mailand. Soviel wird in Mailands Viertel Navigli klar. Navigli sind die Mailänder Kanäle, von denen Reste im gleichnamigen Stadtviertel südlich des Doms erhalten sind. Ihre Transportfunktion haben sie heute längst an den Asphalt verloren. Um Straßen Platz zu machen, wurden die meisten der Navigli unter die Erde verbannt. Nur drei sind in Mailand erhalten: Naviglio Grande, Naviglio Pavese und Naviglio Martesana.

Mediolanum, Stadt des Wassers

Doch zurück zu den Flüssen! Einst war Mailand – genaugenommen Mediolanum, lat. ‚Gebiet in der Mitte’ – eine Stadt voller Wasser. Voller Wasserläufe und Gräben, für frisches Wasser und Abwasser. Römische Städte hatten einen großen Wasserbedarf! (Dafür waren die öffentlichen Thermen dann allen Bürgern zugänglich.) Das Mediolanum der Spätantike, zur Zeit des Bischofs Ambrosius im vierten Jahrhundert n. Chr., durchflossen zahlreiche, kleine Flüsse: Arno lombardo, Serenza, Nirone, Seveso und Sevesetto, Molgora, Lambro, Olona und drei große Kanäle.

Wasser war überreichlich vorhanden. Schon die ersten keltischen Siedler hatten Entwässerungskanäle angelegt, um Landwirtschaft zu betreiben. Die Römer, wegen ihres hohen Wasserbedarfs Wasserbauexperten, begannen den Verlauf des Seveso zu verlegen. Sie teilten den Flusslauf (in Piccolo Sevese und Grande Sevese) und ließen ihn in die Wassergräben der römischen Stadtmauern münden.

Auch der Lauf der Olona wurde schon seit der Antike verändert. Die Römer ließen sie in die Gräben ihrer Stadtmauern münden, seit dem 12. Jahrhundert floss sie in den Graben der mittelalterlichen Stadtmauern und seit Erbauung des Stadthafens Darsena (seit 1603) in diesen. In die Darsena mündet neben der Olona auch der Naviglio Grande und hier beginnt der Naviglio Pavese.

Naviglio Grande

Er ist der größte, wichtigste und älteste der Mailänder Navigli. Der fast 50 Kilometer lange Naviglio Grande bringt Wasser aus dem Fluss Tessin (Ticino) in Mailands Hafenbecken Darsena. Sein Bau begann im Jahr 1177 als Bewässerungskanal und erreichte Mailand 1209. Nach Verbreiterungsarbeiten ist er seit 1272 schiffbar. Mit seiner Tiefe von 3,80 Metern, einer Breite von 12 bis 15 Metern und dem natürlichen Gefälle von 34 Metern über die gesamte Strecke braucht der Naviglio Grande keine Schleusen. Er verbindet Mailand über den Lago Maggiore mit der Schweiz und brachte den Schweizern Salz, Leinen, Eisen, Geschirr, Weizen oder Reis. Den Mailändern hingegen Kohle, Wein, Fleisch, Fisch, Käse, Vieh, Holz und den Marmor für den Mailänder Dom.

Der rosa-grau durchzogene Marmor stammt aus Candoglia im Norden des Lago Maggiore. Über die Tossa (Toce), den Lago Maggiore, den Tessin und den Naviglio Grande erreichte der Marmor in Mailand den Laghetto di Sant’Eustorgio an (Vorgänger der Darsena bei der gleichnamigen Kirche). Hier erhielt er die berühmte Kennzeichnung AUF (Ad Usum Fabricae, lat. den Domwerkstätten zur Nutzung), aus der die Redewendung ‚a ufo’ (umsonst, für lau) entstand. (Für die Domwerkstätten hingegen stimmt das ‚umsonst’ nicht, denn sie waren für Wartung und Instandhaltung des Naviglio verantwortlich.) Über Stadtgräben und das kleine Hafenbecken Laghetto di Santo Stefano und einen kurzen Weg über die Straße gelangten die Marmorblöcke schließlich zu den Domwerkstätten, wo aus ihnen Statuen, Wasserspeier oder Fialen entstanden.

An den Navigli hatten sich verschiedene Gewerbetreibende niedergelassen, wie die berühmten Wäscherinnen, von deren Tätigkeit heute der der malerische Vicolo dei Lavandai (Wäscherinnengasse) zeugt.

Vicolo dei lavandai 2

Als sich der Gütertransport auf die schnelleren Straßen zu verlagern begann, verloren die Navigli ihre Bedeutung und wurden größtenteils zugeschüttet.

Häuser wie ein Theater

In den flachen Häusern an den Navigli lebten Schiffer, Flößer und Wäscherinnen. In deren Höfen hatten Handwerker ihre Werkstätten. Wer also auf Zeitreise in ein vergangenes, bodenständiges Mailand gehen mag, ist in Navigli richtig. Im Hof Cortile degli Artisti (Alzaia Naviglio Grande 4) in der Nähe des Vicolo dei Lavandai könnt ihr in kleinen Boutiquen einkaufen und alte Fotos bestaunen.

Cortile dei artisti

Seht ihr das Wohnhaus mit dem langen Außenbalkon, der die Wohnungen verbindet? Es ist eine Casa di ringhiera (frei übersetzt: ‚Haus mit Geländer’), ein für das Piemont und die Lombardei typischer Baustil für einfache, mehrstöckige Wohnhäuser. Sie waren oft die erste Heimat der Arbeitsmigranten aus Süditalien. Statt Luxus gab es Gemeinschaft. Traten die Bewohner aus ihren aus gerade zwei Zimmern bestehenden Wohnungen, öffneten sie den Vorhang auf die Bühne des Innenhofs. (Die Akustik ist hervorragend.) Die Wohnungen wurden zu Logen, das Wohnen zum Residieren mit allen Sinnen: der morgendliche Kaffeeduft, frisch gewaschene Wäsche auf den Gemeinschaftsbalkons aufgehängt, die Kochgerüche am Abend, spielende Kinder im Hof, das geteilte Bad am Ende der Etage, Gerüchte, Ratschläge und Gespräche jederzeit frei Haus.

Heute haben sich die Case di ringhiera in Wohnungen mit Bad verwandelt, für Pärchen, Künstler und reiche Studenten (die Lage!). Die Höfe zu Parkplätzen degradiert. (Nur die Nostalgie lebt weiter.) Im wunderschönen Maison Borella könnt ihr selbst in einer Casa di ringhiera übernachten – mit Blick auf den Naviglio Grande.

Alda Merini, Dichterin der Navigli

Mailand ist ein Raubtier geworden, ist nicht mehr unsere Stadt, sondern eine dicke Dame, über und über behängt mit sinnlosem Flitterzeug

fand Alda Merini. Die Dichterin der Navigli, Poetessa dei Navigli hat in diesem Teil Mailands gelebt und ließ ihn in ihren Gedichten lebendig werden. Ein Band heißt „Die Verrückte von nebenan“ und die war sie wirklich, denn sie verbrachte oft Zeitabschnitte in psychiatrischer Behandlung. Ihr Leben, ihre Lieben, ihre Kinder, ihre Ehen, die Stadt Mailand – ihr Werk verdichtet Lebensbeobachtungen zu Sprache in höchster Konzentration.

Mural Alda Merini

Den Literaturnobelpreis hat sie nicht bekommen, obwohl sie mehrfach dafür vorgeschlagen war. Dafür wurden viele ihre Gedichte vertont, zum Beispiel von Giovanni Nuti. Mit „le Osterie“ schicke ich euch direkt an die Navigli zum Bummeln, Schlendern, Schauen und Schlemmen. (Text: Alda Merini, Vertonung/Gesang: Giovanni Nuti)

Tipps für Navigli – Übernachten & Touren

Navigli ist eines der beliebtesten Viertel für Nachtschwärmer in Mailand. Es ist voller trendiger Clubs, Bars, Osterien und Straßencafés, in denen ihr in den lauen Sommernächten auf die Kanäle schauen könnt.

Eines der schönsten Hotels direkt am Naviglio Grande ist Maison Borella (Alzaia Naviglio Grande 8, 30 Zi., 4 Sterne). In einer typischen Casa di Ringhiera trifft Architektur des 19. Jh. auf modernes Design. In einer ruhigen Seitenstraße gelegen und frisch restauriert ist das Hotel D’Este (Viale Bliny 23, 84 Zi., 4 Sterne). Hier sind garantiert auch die zur Straße gelegenen Zimmer ruhig (wichtig im Nachschwärmerviertel Navigli). Eine etwas günstigere Alternative ist das Des Etrangers (Via Sirte 9, 94 Zi., 3 Sterne) ebenfalls ruhig gelegen und nur vier Straßen entfernt vom Naviglio Grande gelegen.

Wer mit Kindern unterwegs ist und eine grüne Umgebung wünscht, versuche das B&B Il Giardino (Via Privata Pienza 1) direkt am Naviglio Pavese in einem kleinen, alten Bauernhof, ideal für Familien mit Kindern. Andere B&B-Unterkünfte in Navigli sind das Cocoon B&B (Via Voghera 7) in der Nähe der Metro-Station Porta Genova, des Museums MUDEC und der Armani Silos. Oder das gemütliche B&B Sant’Agostino (Via San Vincenzo 18 D) mit optimalem Preis-Leistungsverhältnis, nur 300 m von den Metrostationen Sant’Ambrogio und Sant’Agostino entfernt.

An den Sommerwochenenden könnt ihr auf den Navigli Bootstouren unternehmen. Aktuelle Informationen hat die Touristeninformation oder die Website Navigli Lombardi (auf italienisch und englisch).

Eine flexiblere Alternative sind Fahrradtouren. Einen Tourenbericht entlang des Naviglio Martesana findet ihr bei Miss Move.

Wer in Navigli in Mailands Geschichte eintauchen möchte und italienisch spricht, dem empfehle ich eine Führung durch Navigli mit Milano Guida.

Ich bedanke mich bei Milano Guida für die interessante Führung!

Kategorien Lombardei Städtereise

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Stefanie lebt mit italienischer Familie am Lago Maggiore, im Norden des Piemont. Einen Ort entdecken heißt alle Sinne nutzen – sehen, hören, zuhören, berühren, schmecken. Die Sprache sprechen kann Wunder bewirken oder ein Tanz zu lokaler Musik!

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