Gleich zuerst sehe ich die äußerst stark gedrehte eiserne Wendeltreppe und ich muss genau hinschauen, um meine Füße sicher aufzusetzen. Gleichzeitig halte ich mich so stark am Geländer fest, dass ich schon nach Sekunden meine Armmuskeln spüre. Nach wenigen Metern wird aus der Wendeltreppe eine senkrechte Leiter. Hier überlege ich kurz, ob ich dem Hinweis auf Sicherung und Helm doch hätte Folge leisten sollen. Quatsch, denke ich, es ist eine Leiter mit Geländer und kein Klettersteig oder Route im Fels! Immer drei Fixpunkte und ruhig aufwärts steigen. Wenige Sekunden später befinde ich mich schon im Kopf des Karl Borromäus (it. Carlo Borromeo), dessen komplett begehbare kupferne Kolossalstatue ich gerade erklimme.
Eine große Statue, ein Koloss steht immer für etwas Kolossales, etwas wirklich Bedeutsames. Einfach nur für Geld oder Ruhm werden diese Werke nicht aufgestellt, oder?
Karl Borromäus wurde 1538 in Arona in das bedeutende italienische Adelsgeschlecht der Borromäer geboren. Aus der Familie der Borromäer kamen Päpste und Kardinäle. Ihr Kernbesitz lag seit dem 15. Jahrhundert am Lago Maggiore, deren berühmte Inseln den Familiennamen tragen. Karls Leben steht für überragende Nächstenliebe und Hingabe an die Organisation, die er repräsentierte und mitgestaltete. Er hatte einen privilegierten Platz an der Kurie aufgegeben, um das stark heruntergekommene Erzbistum Mailand zu übernehmen, das er zur Blüte führte. Er schuf Bildungsmöglichkeiten für arme Studenten. Seinen außerordentlichen Ruf in gelebter Nächstenliebe erwarb sich Karl Borromäus während der Pest 1576, als er sich für eine umfangreiche Fürsorge einsetzte. Er starb mit nur 46 Jahren und wurde bereits 1610 heiliggesprochen. Ein Leben wie ein Blitz, kurz und hell, denke ich.
Ganz besonders auf den jüngeren Cousin Federico Borromeo hatte Carlos Wirken Eindruck bis hin zur Überwältigung hinterlassen. Er weigerte sich sogar Carlos Nachfolger als Erzbischof in Mailand zu werden, weil er meinte, seinem Vorbild nicht gewachsen zu sein. Er war es, der die 23 m hohe Kolossalstatue errichten ließ. Als Erzbischof war Federico der erste Geistliche, der die Künste förderte. Er gründete die Biblioteca Ambrosiana 1602, deren angeschlossene Gemäldesammlung Pinacoteca Ambrosiana noch heute in Mailand zu besichtigen ist.
Die Bewunderung für Carlo Borromeos Taten ist auch für mich als nicht-katholische Besucherin zu spüren. Es ist die tiefe Verehrung für das Wirken eines Menschen, das über persönlichen Nutzen und eigene Befriedigung darüber, etwas Gutes zu tun, weit hinausreichte, eines Menschen, der auch die Gefahr für das eigene Leben nicht fürchtete. Eine lebendige und intensiv gelebte Religiosität ist sicher der Ursprung für dieses Leben, und die dafür notwendige Zuversicht. Ich erinnere mich bei diesem Gedanken an die Worte Julia Kristevas in einem Gespräch über Europa: Europa sei vom „Kult der Person, von der Sorge um die Person geprägt“ und das kulturelle Erbe Europas bestehe im „religiösen Phänomen“. Während ich über meinen Besuch in Arona nachsinne, Gedanken ordne und das entstandene Netz aus Personen und Orten erkunde, verstehe ich, was Kristeva meinte.
In der gegenüberliegenden Kirche ist eine Ausstellung dem Leben der Cousins Borromeo gewidmet. In ihr finden sich Fotografien einzelner Blätter des 1.119 Blätter umfassenden Codex Atlanticus von Leonardo da Vinci (Teil der Sammlung der Biblioteca Ambrosiana), Porträts, eine Papstsänfte und ein hölzernes Modell des Mailänder Doms.
Geburtsort Carlo Borromeos ist die Burg Rocca di Arona, die heute nur noch als Ruine erhalten ist, da sie unter Napoleon geschleift wurde, um eine Verschanzung feindlicher Truppen zu verhindern. Aus den abtransportieren Resten wurde die Straße zum Simplonpass (Passo Sempione) gebaut. Der Park Rocca di Arona beginnt direkt an der Kreuzung der Via San Carlo mit der Via Sempione. Oben angekommen hat man einen schönen Blick auf Stadt und See.
Lohnt sich also der Besuch in Arona, der Geburtsstadt eines katholischen Heiligen, dem Standort einer begehbaren Kolossalstatue und einem Haufen Ruinen? Ich finde, wer am Lago Maggiore Station macht oder auf dem Weg nach Mailand in Arona vorbei kommt, sollte sich Stadt und Statue anschauen. Die hübsche Altstadt bietet kleine wundervolle Restaurants und Boutiquen, die durchaus Freude wecken können.
Dringend zu empfehlen ist ein Besuch für
- Fans von begehbaren Kolossalstatuen
- Schwindelfreie Gebäudekletterenthusiasten
- Renaissance-Fans
- Reisende mit Ziel Freiheitsstatue in New York und Wunsch nach einer Generalprobe
- Liebhaber von kleinen Städten
Habt Ihr einen Lieblingskoloss? Warum? Wer sollte Eurer Meinung nach einen Koloss erhalten? Auch wenn Kolosse zur Recht aus der Mode gekommen sind! Nehmen wir einen ideellen Koloss an 😉