Déjà vu Kulturschock – Eine Diagnose

„Ein schönes Land!“, sagen alle und denken an Sommer, Sonne und Meer. Für Intellektuelle sind die Werke Dantes, Petrarcas und Machiavellis Grund genug, die italienische Sprache zu lernen. Nach Italien reisen Sonnen- und Kulturhungrige gleichermaßen. Italien ist ein Konsensland, auf dessen Kulturschätze und Naturschönheiten sich alle einigen können. Warum also das Theater? Reiß dich zusammen! Sei offen, sage ich mir. Schließe Frieden mit den Dingen, die dir in Italien nicht passen.

Déjà vu Kulturschock – Überraschung und Symptome

Aussortieren, umräumen und Dinge neu ordnen sind für mich hochpsychologische Handlungen. Der seelische Hausputz gibt der Erinnerung eine Ordnung und erdet. Es gibt im Haus schon seit einem Jahr zwei Kartons „alte Bücher“ „libri vecchi“, für deren Inhalt ich nun endlich Regalplätze gefunden habe. Dabei fällt mir – Punktlandung – ein Flyer aus der Zeit meines Austauschschuljahres in die Hände: „Kulturschock“. Ich lese mich fest:

Wir sind Produkt unserer eigenen Kultur und deren Werte, Haltungen und Ideen. Fast alle, die einmal in einer fremden Kultur gelebt haben, kennen einen Tiefpunkt im Anpassungsprozess, der Kulturschock genannt wird.

Nichts Neues, klar. Neu ist mir, dass

Kulturschock passiert, egal wie oft jemand schon in einer anderen Kultur gelebt hat.

Bei mir sind es ohne Italien fünf Länder. Meine Frage ist nun: Gibt es einen direkten Weg von der Einsicht zur Besserung?

Zur Einsicht beschließe ich einen Abgleich der Symptome (nur die psychologischen, die potenziell physischen wie Schlafprobleme, Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen lasse ich beiseite): Einsamkeit und Langeweile, Heimweh und Idealisierung der Heimat, Gefühl von Hilflosigkeit und Abhängigkeit, Irritierbarkeit und Feindseligkeit, Rebellion gegen Regeln, Stereotypisierung Einheimischer.

Kulturschock Italien – Versuch einer Diagnose

Einsamkeit und Langeweile: Langeweile?! Neben meinen eigenen drei Webseiten (alle drei mehrsprachig) ist vor einigen Tagen mein erster Piemont-Artikel auf Italian Storytellers erschienen. Das Projekt ist eine Initiative italienischer Blogger, ich berichte dort über den Norden des Piemont. Während der jüngsten Hitzewelle habe ich in Mailand mit den Recherchen für mein E-Book begonnen, dazu bald mehr. Langeweile – Fehlanzeige! (Einsamkeit genauso: zwei neue Kurse, neue Bekannte und Kollegen – ich bräuchte viel mehr Zeit!)

Heimweh und Idealisierung der Heimat

Auch wenn echtes Heimweh für mich schwierig wird, weil ich meinen Wohnort einfach zu oft gewechselt habe: Nach einiger Zeit (Monate oder Jahre) stellte sich ein Heimatgefühl ein, spätestens wenn gute Freunde gefunden waren. Der Idealisierung der Heimat kann ich mich nicht schuldig bekennen. Eine Schuld trifft mich jedoch voll: ich stehe auf Effizienz und Pünktlichkeit. Den Wunsch, Fragen und Probleme schnell und effizient zu lösen, um zu produktiveren Dingen zu kommen, kann ich nur schwer ignorieren.

Beschweren Sie sich bitte nicht bei mir, dass Sie keine Zeit haben! Sagen Sie mir einfach, wann ich wieder kommen kann und was ich mitbringen muss, um meine Frage zu klären.

In drei Monaten soll ich wieder kommen? Ich möchte mich aber heute registrieren. Und bin dazu verpflichtet. Danke, ich entscheide selbst, ob ich Touristin oder Einwohnerin bin, auch wegen der Krankenversicherung! (Nein, ich überlege es mir nicht anders!) Danke für Ihre Kooperation. Geht doch.

Und was ist der Sinn einer autocertificazione, zum Beispiel über meine Anmeldung an einem Ort? Ich habe ja auch meinen Personalausweis, in dem meine Meldeadresse nach Überprüfung durch Besuch eines Polizeibeamten angeführt ist? Spricht überhaupt etwas grundsätzlich gegen die bürgerfreundliche, effiziente Organisation örtlicher Bürokratie? Warum sollte Ineffizienz als Kulturgut erhalten bleiben?

Gefühl von Hilflosigkeit und Abhängigkeit, Irritierbarkeit und Feindseligkeit

Ein Gefühl von Hilflosigkeit – ja! Empfinde ich im Straßenverkehr! Sinn und Funktion des Sicherheitsabstandes, des Blinkens und des geordneten Spurwechsels haben sich in Italien bisher bei der Mehrheit der Verkehrsteilnehmer nicht durchsetzen können. Dagegen kann ich nichts tun, obwohl es sicher Unmengen Daten zum praktischen Sinn des Sicherheitsabstandes gibt.Ich kann nur auf Gleichgesinnte Hinter-mir-Fahrer hoffen. Auch in Deutschland tue ich mich angesichts Rasern und Dränglern schwer, aber dort kenne ich meine Rechte und wüsste mich zu wehren.

Rebellion gegen Regeln

Um beim Straßenverkehr zu bleiben, ich halte mich an Geschwindigkeitsbegrenzungen (plus 10 km/h), schon aus Gewohnheit. Immerhin ist das Benzin teurer als in Deutschland. Gute Regeln haben einen Sinn, sind nachvollziehbar und werden kontrolliert, damit sie ernst genommen werden. Sie machen das Leben für alle Beteiligten einfacher, besser. Ich finde die Rebellion gegen gute Regeln albern. Ist das eine Alters- oder eine Kulturfrage?

Stereotypisierung Einheimischer

Spontan sage ich: Das können andere besser. Lessing bezeichnete die Italiener als Prahler, die sich einbildeten, die Abkömmlinge der Römer zu sein, weil sie auf deren Gräbern geboren wurden. Gustav Seibt diagnostiziert in der SZ Lustlosigkeit und kulturelles Desinteresse an Italien, ohne die ewigen Gründe für eine Begeisterung an klassischer italienischer Literatur in Abrede zu stellen. Politische Gründe zeigten den demoralisierten Zustand der italienischen Gesellschaft an. Giftmülldeponien, Verbindungen mit organisierter Kriminalität bei italienischen Politikern, Sexismus und die Entsolidarisierung der italienischen Gesellschaft die Symptome.

Und wen stereotypisiere ich? Mein Beispiel oben – öffentliche Angestellte: Ich finde da ist bei Dienstleistungsqualität und Serviceeinstellung noch reichlich Platz für Verbesserungen. Qualität kommt von Ausbildung, Einstellung. Ist Effizienz ein universales Recht? Wie wäre es mit Service Design für die öffentliche Verwaltung? Klingt nach einer guten Geschäftsidee! 🙂

Kulturschock und nun?

Die Anpassung an die fremde Kultur ist ein Prozess, die Geduld und einen guten Willen braucht. Erster Schritt: persönliche Ziele setzen. Für mich heißt es, meine Projekte weiter zu entwickeln und Verbündete, italienische Partner zu finden. Auf jeden Fall möchte ich mein Italienisch verbessern und mir einen Tandempartner suchen. Die Kolumne auf Azzurro Diary soll wieder regelmäßiger erscheinen – dort werde ich über meine Erlebnisse und Ideen für Italienisch berichten.

Wie hast Du Kulturschock erlebt? Was hat Dir geholfen, Dich besser zu fühlen?

Kategorien Leben & bloggen in Italien

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Stefanie lebt mit italienischer Familie am Lago Maggiore, im Norden des Piemont. Einen Ort entdecken heißt alle Sinne nutzen – sehen, hören, zuhören, berühren, schmecken. Die Sprache sprechen kann Wunder bewirken oder ein Tanz zu lokaler Musik!

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