Nationalpark Val Grande – das letzte Paradies Europas

Nur wenige Kilometer vom belebten Lago Maggiore entfernt liegt die größte Wildnis der Alpen. Von Verbania aus erreiche ich das Parkgelände in nur einer halben Stunde Autofahrt. Dann setze ich meinen Fuß bereits in das letzte Paradies des europäischen Kontinents. Jahrhundertelange Alpwirtschaft und intensive Holznutzung prägten dieser Landschaft ihren Charakter ein. Nach der Zerstörung der wirtschaftlichen Infrastruktur während des Krieges suchten die Menschen Arbeit in den Industriebetrieben der Städte und vergaßen die Täler. Daher übernahm die Natur  das Zepter und hält es bis heute. Dies allerdings zur Freude der Menschen, die diese Wildnis pflegen und genießen.

Im Innern des Val Grande wird jede Sache so riesig, dass eine Banalität sich in einen Giganten verwandeln kann. Und gigantisch sind die Emotionen, die die Natur in uns auslöst, wenn wir fähig sind, die tiefe Stille zu hören und die totale Finsternis zu sehen.

Alberto Actis*

Rückblick auf Holzwirtschaft und das Leben auf der Alp

Auf der Hauptstraße Sunas, im dörflich geprägten Teil von Verbania (heute heißt sie Straße der Partisanen, Via dei Partigiani) herrschte einst geschäftiges Treiben. Fröhliche Stimmen erschallten, Geschirrgeklapper aus den zahlreichen Trattorien hallte in der ganzen Straße wider. Wenn Älpler und Holzarbeiter aus dem Val Grande in die Stadt herunterkamen, gingen sie durch diese Straße und kehrten auf eine Mahlzeit ein.

Wer die Häuser in der Via dei Partigiani heute aufmerksam betrachtet, findet an einigen noch das Zeichen des Baummenschen (l’uomo-albero), Symbol des Val Grande.

Baummensch in Suna Symbol des Val Grande

Die Erschließung der wilden Täler folgte einer geschickten und schrittweisen Eroberung, die bereits um das Jahr 1000 begann. Bevölkerungswachstum zwang die Bewohner ihre Weidegebiete in immer höheren und unzugänglicheren Bergwiesen zu suchen. Auf diesen Alpen befanden sich Hütten mit Kamin zum Käsen und Kochen. Sie lagen in der Nähe von Quellen oder Bächen. Die Gemeinden besaßen sogenannte Maisäße für den Aufenthalt von Vieh und Hirten im Frühjahr und Herbst. Im Sommer wurden noch höher und entfernter gelegene Alpen beweidet. Der Reichtum einer Gemeinde war an der Anzahl der Alpen in ihrem Besitz erkennbar. Nur eine große Anzahl an Alpen garantierte ausreichend Nahrung und damit das Überleben in der rauen Umgebung.

Karte Val Grande parks.it

Während die Männer einer Lohnarbeit in Industrie, Bau oder Forstwirtschaft nachgingen, waren die Frauen und Kinder auf der Alp auf sich gestellt. Sie molken die Ziegen und Kühe, kästen und sammelten Wildheu für den nächsten Winter. Für die Kommunikation und die Unterhaltung blieb ihnen das jodelartige Zurufen von Alp zu Alp, genannt Arsunà. (Auch weiterhin nützlich, schließlich ist der Handyempfang im Val Grande schlecht 😉

Val Grande Piancavallo

Holz aus dem Val Grande wurde über den Fluss San Bernardino bis nach Intra geflößt. Dort befeuerte es die Produktion von Tonwaren und Glas. Der andere Teil des Holzes wurde über den Lago Maggiore und Kanal Naviglio Grande bis nach Mailand transportiert. Aus dem Abfallholz machten die Köhler Holzkohle. Diese trugen die Frauen in 30 Kilogramm schweren Säcken Seilbahnstation. In den 1950er Jahren wurde die industrielle Holzwirtschaft im Val Grande aus wirtschaftlichen Gründen aufgegeben.

Val Grande der Partisanen und das Rastrellamento

Während Mussolinis Marionettenregierung (Repubblica di Salò) unter deutscher Besatzung in Norditalien ab September 1943 wächst eine breite Widerstandsbewegung aus Menschen unterschiedlichster politischer Strömungen heran. Im Gebiet des Alto Verbano entstehen drei verschiedene Partisanengruppen, die junge Männer aus vielen Städten des Piemont und der Lombardei anziehen. Schlecht ausgerüstet, überfallen sie deutsche Kommandoposten und geleiten ehemalige Gefangene zur Schweizer Grenze.

Das Gebiet des Val Grande diente den verschiedenen Partisanengruppen als Rückzugsgebiet. Um die Kontrolle über die Wasserkraftwerke im Ossolatal zur Versorgung der Rüstungsbetriebe zu sichern und die Simplonlinie über die Alpen vor Angriffen durch Partisanen zu schützen, planten Deutsche Truppen und Faschisten eine Durchkämmung des Val Grande. Im Juni 1944 durchkämmten (rastrellare) tausende deutsche Truppen das Gebiet, um die Partisanen aufzuspüren und zu töten. Dabei zerstörten sie die Infrastruktur der Täler und beförderten den Zusammenbruch der Alpwirtschaft.

Zeugnis des Rastrellamento

Val Grande Nationalpark – Wilderness zur persönlichen Verwendung

Seit 1992 ist Val Grande ein Nationalpark, der sich dem Wilderness-Konzept verschrieben hat. Die einst verfallenen Häuser auf den Alpen wurden wieder aufgebaut und dienen heute als bequeme (mit Holzöfen, Tischen und Sitzbänken) Biwaks für Wanderer. Die Täler Val Grande und Val Pogallo sind vom Menschen geprägte Kulturlandschaften, die jahrhundertelang von raubbauartigem Holzschlag und der Alpwirtschaft durch die Bewohner der anliegenden Gemeinden geprägt waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sie komplett sich selbst überlassen und 40 Jahre lang vergessen. Die Alpwiesen verwilderten, die Wälder erholten sich vom Holzschlag. Die vom Menschen geprägte Kulturlandschaft ist wieder von der Natur überwachsen, wobei die Spuren der Nutzung erhalten blieben und den Charakter der Täler prägen.

Val Grande Nationalpark ist heute ein Monument an das raue Leben der Älpler und die Kämpfe der Partisanen. Die der intensiven menschlichen Nutzung aber nicht menschlichem Einfluss entzogene Landschaft bietet nun ihren modernen Benutzern eine eindrucksvolle Szenerie. Umfangen von der Ruhe der Wälder, Täler und den Früchten des Waldes können Besucher ihren eigenen Rhythmus finden, die Aussicht genießen oder im Herbst tagelang durch den Nebel wandern. Wer das Alleinsein vorzieht, kann ebenso leicht tagelang durch die Täler streifen, ohne einem Menschen zu begegnen. Aber auch Tagesausflüge mit dem Auto (bis zum Ende einer Straße und weiter zu Fuß) und einem Spaziergang oder Kurzwanderungen ermöglichen bereits eine wohltuende Auszeit von Lärm und Hektik.

Pizzo Marona

Im Val Grande findest du was du suchst

Ja, im Val Grande findest du was du suchst.

Dieser in Europa einzigartige Park ist ein Ort, an dem man seine Sinneswahrnehmungen hinter sich lassen sollte. Unbekannte Sinneswahrnehmungen und ein neues Zeitgefühl wecken die Vorstellung, dass man sich vor einem Spiegel befinde. Im Spiegel erkennt der Besucher zwar sein Bild wieder, nimmt sich selbst jedoch als Fremdkörper in der Umgebung wahr. Das Selbstbild erscheint vom Bewusstsein losgekoppelt, spiegelverkehrt. Von der Gewohnheit befreit, wird das Ich übermächtig und lenkt uns von der rauen Landschaft ab, vermischt sich mit dem Farbenspiel der Natur. Die Wildnis gewährt uns Augenblicke mütterlicher Geborgenheit, aber auch solche größter Feindlichkeit – wahre, echte, greifbare Momente.

Alberto Actis*

Was aussieht und sich ein bisschen anhört wie die Einwirkung halluzinogener Drogen ist Wilderness. Seit meinem ersten Aufenthalt im Val Grande bin ich süchtig nach den Ausblicken auf grüne Hänge, dem Monte Rosa-Massiv am Horizont, endlose Heidelbeerfelder, das erfrischende Bäder im türkisblauen Teich, dem Plätschern der Bäche und Flüsse in den Schluchten. Bin süchtig nach meinen ruhigen Schritten bergauf und bergab und die wohlige Erschöpfung nach einem erwanderten Tag. Das Val Grande ist wildes Refugium mit endlosen Entdeckungsmöglichkeiten, Farben und Stille. Das ist das Konzept der Wildnis des Parks: Die Wildnis ist Projektionsfläche für den Menschen mit seiner Sehnsucht nach Einsamkeit, ungezähmter Natur und spirituellen Erlebnissen.

Lese-Tipp für den Besuch im Val Grande

Unerlässlich, um in die Welt des Val Grande einzutauchen: eine gute Karte und der wundervoll informative Reiseführer Nationalpark Val Grande: Unterwegs in der Wildnis zwischen Domodossola und Lago Maggiore**. Neben ausführlichen Tourenbeschreibungen bietet er zahlreiche Hintergrundinformationen zur Kulturgeschichte der Region.

Nützliche Links

* Alberto Actis ist Präsident des Nationalparks Val Grande. Das oben stehende Zitat ist dem Vorwort des Reiseführers „Nationalpark Val Grande“ (2008) vom Rotpunktverlag Zürich entnommen.

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Kategorien Natur Piemont Reisen

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Stefanie lebt mit italienischer Familie am Lago Maggiore, im Norden des Piemont. Einen Ort entdecken heißt alle Sinne nutzen – sehen, hören, zuhören, berühren, schmecken. Die Sprache sprechen kann Wunder bewirken oder ein Tanz zu lokaler Musik!

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