“Tanz der Tarantel” von Kirsten Wulf

Morgens um halb sechs wird die Journalistin und Halbitalienerin Elena samt ihrer Kamera in die Kapelle Santo Paolo zitiert. Von Nicola, dem Pizzica-Musiker, dem sie seit Tagen für eine Recherche auf den Fersen ist, um die Tiefen seiner Musik zu ergründen. Pizzica, furiose Musik des Salento, ist die Musik der Tambourine, die sofort in die Beine geht, sie zucken, stampfen, dem Rhythmus folgen lässt.

„Pizzica, das ist der Herzschlag des Salento“, hatte Nicola gesagt und dabei mit den Fingern leicht auf seinem Tamburin getrommelt.

In die Kapelle Santo Paolo. Santo Paolo ist der Heilige, der die Feldarbeiterinnen vor den Bissen der Schlangen, Skorpione und Spinnen schützen sollte.

„Das Gift der Tarantel machte die Frauen verrückt“, […] Das Chaos wütete in ihnen.“ Gebissen wurden fast immer Frauen, Landarbeiterinnen, Tagelöhnerinnen, die im Sommer auf den Feldern den gemähten Weizen oder Tabakblätter vom Boden aufhoben. Im Schatten, wo es feucht und dunkel war, im Gras, dort versteckten sich Taranteln vor der grellen Sonne. Meist begann es mit Unwohlsein im Magen, zuckenden Gliedern, dann wurden die Musiker gerufen und spielten tagelang. Einige Frauen wurden hysterisch und schrien, rannten wie besessen umher. Andere reagierten depressiv, apathisch – je nachdem, was für eine Spinne gebissen, welche Farbe sie gehabt hatte. Pizzica war Heilung, „und Pizzica war immer auch Befreiung“, ergänzte Nicola.

Pizzica als heilende, reinigende Ekstase, als Befreiung von Gift, das woher auch immer stammt. Ob dieser Mythos bloß ein hübsches Ethno-Jäckchen oder glaubwürdige Grundlage für den Erfolg seiner Band ist, ist nicht mehr wichtig, denn Nicola ist tot. Wie in Trance schießt Elena im Morgenlicht der Kapelle Fotos von der Szene, die sich ihr bietet: der Leichnam Nicolas im weißen Leinenhemd einer Taranta, einer von der Spinne Gestochenen.

Da Elena ihre Erkundigungen in Nicolas Umfeld fortsetzt wird sie zur Mitermittlerin. Weiter und weiter dringt sie in die Familiengeschichten seiner Freunde und Verwandten ein – und in die Vergangenheit der Region. Flucht vor der Armut in den Norden, verstummendes Land, zerfallende palazzi, der Zeit überlassen und niemandem sonst. Das hatte Nicola ihr in den Tagen zuvor erklärt:

„Das kannst du rückständig nennen. Verschlafen. Schluderig. Ignorant, weil so vieles einfach verrottete“, sagte Nicola, „aber es wurde auch nichts endgültig vernichtet oder mutwillig durch gigantische Bauprojekte zerstört. Büsche und Bäume überwucherten die Steine, die Geschichte und Traditionen des Salento, aber es war alles noch da. Alles.“

In diesem sonnenverbrannten Stück Erde am Absatz des italienischen Stiefels, mit seinen uralten Olivenhainen, den noch altgriechisch sprechenden Alten in manchen Dörfern lässt Kirsten Wulf die volkstümliche Musik Pizzica mit neueren Klängen wie Funk, Hip-Hop und Reggae verschmelzen. “Tanz der Tarantel” ist mehr als ein geschickt komponierter Krimi. Es ist die Geschichte einer Rückkehr in die Heimat, voller Pläne und Ideen, getragen von Vergangenheit und Traditionen und voller Konflikte, die aus der Tagespresse stammen könnten.

Die rhythmische Kraft der Pizzica-Musik scheint sich auf die Geschichte übertragen zu haben: Dieser Apulien-Krimi erzeugt sogleich Suchtpotenzial, das einen das Buch ungern aus der Hand legen lässt. Möglicherweise ahne ich als Leser schnell, dass das Ethnojäckchen des Pizzica-Mythos abgetragen und die Wahrheit oft vielschichtiger und trauriger ist, als wir hoffen können. Elenas Ermittlungen entfalten Seite um Seite kulturelle Wurzeln des Salento und enthüllen im letzten Drittel der Geschichte das wahre Wesen des Pizzica-Mythos – wahr zumindest aus der Sicht seiner Protagonistinnen.

Trost spenden nach beendeter Lektüre zwei Gewissheiten. Dieses Apulien mit seinen Tambourinen, Olivenhainen und der brennenden Sonne befindet sich nur eine kleine Reise entfernt und ist keine blutleere, überlaufene Kulisse ohne Leben. Im Gegenteil: Der peitschende Rhythmus, die Ekstase und die Leidenschaft sind echt. Zweitens: Es handelt sich um den Auftakt einer Krimireihe der in Apulien lebenden Autorin. Hurra, Fortsetzung folgt!

Kategorien Apulien Süditalien

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Stefanie lebt mit italienischer Familie am Lago Maggiore, im Norden des Piemont. Einen Ort entdecken heißt alle Sinne nutzen – sehen, hören, zuhören, berühren, schmecken. Die Sprache sprechen kann Wunder bewirken oder ein Tanz zu lokaler Musik!

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