Eindrücke von Terra Madre Salone del Gusto 2016

Drei Tage Turin, vollgepackt mit der größtmöglichen Vielfalt an leckerem Essen, inspirierenden Gästen, interessanten Diskussionen. Führten zu zwei erneut erwachten Leidenschaften und der wichtigen Gewissheit wie politisch unser Essen ist. Ich will wissen warum das so ist und was ich selbst jeden Tag tun kann, (Da ist so Einiges!) Und ich verrate mein überraschendstes Geschmackserlebnis.

Tag 1: Ankommen – Vielfalt ist unser Reichtum

Dank eines freundlichen und fürsorglichen Taxifahrers gelange ich nach meiner Bahnhofsverwechslung schnell auf meine erste Konferenz. Die Konferenzen finden im wunderschönen Theater Carignano in der Nähe des Schlossplatzes Piazza Reale statt. Da ich möglichst viel Wissen und Inspiration mitnehmen möchte, habe ich mich vorab für vier Konferenzen entschieden. Los geht es mit dem sehr italienischen Thema: „Krimineller Geschmack – Agro-Mafia und Lebensmittelfälschungen“ mit Don Luigi Ciotti, den Gründer von Libera. Das habe ich erfahren: 60 Mrd. jährliche Steuervermeidung in Italien durch Fälschungen, Ökomafia-Gruppen erwirtschaften 150 Mrd. Euro pro Jahr. Jeder Rückgewinn an Legalität sei damit immer ein Gewinn an Ressourcen. Aktuell ist in Italien ein neues Gesetz in Vorbereitung, das u. a. unwahre Etikettierung von Produkten hinsichtlich Herkunft, Produktion, Inhaltsstoffen und Verteilung strafbar macht. Fazit Don Ciotti: Umweltschutz und Gesellschaft müssen immer zusammengedacht werden.

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Weiter geht’s im Parco Valentino. Im dortigen Castello Valentino ist die Pressestelle untergebracht und ich versorge mich mit Informationen und meinem Pressepass. Von dort stürze ich mich ins Getümmel des Valentino Parks: mit Märkten von Slow Food Produzenten aus aller Welt, den Terra-Madre-Gemeinschaften und -küchen. Von jetzt an ist es schwierig, nicht tausend Sachen wild durcheinander zu probieren und zu kaufen, um dann mit schwerer Tasche den weiteren Tag zu bestreiten. Ich beschränkte mich auf Safran aus Spanien, Trüffelcreme aus dem Piemont und der großartigen Rosenblätterpaste aus Finnland, meiner absoluten Geschmacksentdeckung!

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Auf der Pressekonferenz neben Slow Food-Gründer die Turiner Bürgermeisterin Chiara Appendino und Kulturminister Dario Franceschini betont Carlo Petrini, dass es bei Slow Food nicht um Exzellenz beim Essen gehe, sondern um das Recht auf gutes, sauberes und faires Essen für alle. (Wie weitreichend und konkret politisch diese Forderung ist, deklinieren die Konferenzen und Foren detailliert durch.) Petrini ermahnt uns (im Norden, Westen), Brüderlichkeit fraternità zu zeigen und damit die bestehende Verbundenheit anzuerkennen. Essenziell sei es, das Wissen der Produzenten, der Bauern zu respektieren. Auf der anderen Seite der Ladentheke müssten informierte Bürger stehen, denn deren Informiertheit sei für die Wiederherstellung der Würde der Produzenten notwendig. Zum Schluss fordert Petrini uns Zuhörer auf: Tut mir einen Gefallen, kostet die Produkte und sprecht mit den Produzenten erfahrt mehr über ihre Produkte! Denn guter Geschmack hat zwei Bestandteile: Piacere con sapere Gefallen mit Wissen! Seid Personen guten Geschmacks!

Petrini: "Seid Menschen guten Geschmacks!"
Petrini: “Seid Menschen guten Geschmacks!”

Am Schluss des offiziellen Teils meines ersten Tages auf Terra Madre Salone del Gusto steht der Kick-off der Petition und Kampagne zum Bodenschutz, initiiert von einem Netzwerk aus über 300 Organisationen „People4Soil“. Binnen eines Jahres sollen 1 Million Unterschriften aus mindestens 7 Ländern mittels einer europäischen Bürgerinitiative gesammelt werden. Glingt das, muss die Europäische Kommission konkrete Maßnahmen zum Schutz des Bodens ergreifen. Die Petition (zu lesen hier) kann (in Kürze) auf www.people4soil.eu unterzeichnet werden.

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Am Abend erwartet mich ein Schlemmermahl im Turiner Gustotram! Mit dem leckersten Wein, den ich seit Langem getrunken habe. Cincin!

Tag 2: Sie sind Giganten, aber wir sind Millionen

Am zweiten Tag lasse ich es etwas ruhiger angehen und schlendere am Vormittag über die Via Roma, Piazza San Carlo und Piazza Castello, auf denen Slow Food Aussteller ihre Produkte präsentieren.

Via Roma, Foto: Alessandro Vargiu, Slow Food Archiv
Via Roma, Foto: Alessandro Vargiu, Slow Food Archiv

“Loro sono giganti, ma noi siamo moltitudine” “Sie sind Giganten, aber wir sind Millionen” ist der Titel der Konferenz, auf die ich sehr gespannt bin. Beim Thema Kontrolle der Lebensmittelproduktion stehen sich zwei Positionen unversöhnlich gegenüber. Die Giganten (auch liebevoll Agromultis genannt, Großkonzerne der Landwirtschaft wie Bayer-Monsanto) versichern, nur sie seien in der Lage, die wachsende Weltbevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen. Industrielle Produktion, Gentechnik und Pestizide seien der Weg dafür. Für Bauern aus aller Welt stellt sich die Situation anders dar: Landdegeneration, Landraub, Verlust von Autonomie und Entscheidungsfreiheit, Verschuldung, im schlimmsten Fall Suizid (in Indien ein großes Thema). Die Giganten (und Anzeigenkunden) haben in unseren Medien eine (zu) willige Plattform, ihre Informationen (oder hier) an die Bürger zu bringen. Ihren Gegnern geht es nicht um Gewinne und Bilanzen, sondern um das persönliche Überleben, das fast immer an das eigene Stück Land geknüpft ist. Die Ausgangspositionen könnten verschiedener nicht sein und machen deutlich, warum es keinen Kompromiss zwischen beiden Seiten geben kann. Von der politischen Forderung ‚Essen sollte ein Recht für alle sein‘ einmal abgesehen, wer hat recht? Fakt ist, dass die Millionen kleiner Produzenten 80 Prozent der Weltbevölkerung ernähren. Fakt! Die Produkte der Giganten dagegen fließen größtenteils in die Fleisch- und Ethanolproduktion. Mein Fazit: Wo mit Alternativlosigkeit argumentiert wird, sollte jede genau hinschauen, hinterfragen. Oder um ein Statement von Altieri vorwegzunehmen: Look at the evidence, not the rhetoric. Schaut auf die Beweise, nicht die Phrasen.

Teatro Carignano, Foto: Alessandro Vargiu, Slow Food Archiv
Teatro Carignano, Foto: Alessandro Vargiu, Slow Food Archiv

Obwohl mit José Bové, französischer Farmer, Aktivist, Autor und EP-Mitglied und Marion Nestle, Food Politics-Expertin (ihre Website seit zehn Jahren), Autorin und Universitätsprofessorin (New York University) zwei Menschen mit gleichen Zielen und Veränderungswillen diskutierten, verfolgen sie zunächst unterschiedliche Methoden. Während Bové, der nicht nur seines Bartes willen immer mit Asterix verglichen wird, sich immer kämpferisch gibt und in seiner Anfangszeit mit „Feldbefreiungen“, der Zerstörung von Genmaispflanzungen, bewusst Gefängnisaufenthalte in Kauf nahm, distanziert Marion Nestle sich von „activism“ einem Begriff, der im Amerikanischen pejorative Bedeutung hat. Trotz ihres auf Bildung und Forschung basierenden Ansatzes will Nestle ähnlich radikale Veränderungen und fordert ihre Studenten auf, in Schulen zu gehen und so das Bewusstsein für gutes Essen frühzeitig zu wecken und Kindern wertvolle Erfahrungen zu vermitteln. Citizen eaters sollten dieselben Methoden wie Lobbyisten verwenden und mit ihren Abgeordneten sprechen. Dass die beiden Diskutanten sich in ihren Wegen zum Ziel gesünderer und gerechterer Lebensmittel nicht so stark unterscheiden, zeigt Bovés “Squirrel-Story“ aus seiner Zeit in Berkeley (als seine Eltern dort Professoren waren). Der junge Bové sollte ein Eichhörnchen zeichnen, was er tat so, wie er es kannte: mit geradem Schwanz, den es hat, wenn es flink einen Baumstamm hinaufläuft. Doch seine Lehrerin forderte ihn auf, die Zeichnung hin zu einem gekringelten Schwanz à la Disney zu ändern, was er verweigerte, worauf sie seine Mutter hinzu rief. Diese gab ihrem Sohn recht. Bovés Fazit: Unterstützt eure Kinder, sodass sie starke Persönlichkeiten werden. Mein Fazit: Als essende Bürger wählen wir mit der Gabel, zu jeder Mahlzeit. Die Supermärkte sind die Zielorte der Giganten, an denen sie uns ihre Produkte anbieten. Wir können sie kaufen (und ihren Profit mehren) oder eben nicht. Meiner zweiter Tag Terra Madre Salone del Gusto klang mit der Terra Madre Parade in den Straßen Turins aus.

Terra Madre Parade, Foto: Alessandro Vargiu, Slow Food Archiv
Terra Madre Parade, Foto: Alessandro Vargiu, Slow Food Archiv
Terra Madre Parade, Foto: Paolo Properzi, Slow Food Archiv
Terra Madre Parade, Foto: Paolo Properzi, Slow Food Archiv

Tag 3: Von Agroökologie und Gartenrevolutionen

Gestern habe ich akzeptiert, dass ich mich meinungstechnisch auf der Seite von protestierenden Bauern und Globalisierungsgegnern befinde, obwohl ich eher versöhnlich gestimmt bin und intelligente Strategien und Politik, konstruktive Praktiken vorziehe. Heute lerne ich, dass nicht alle und überall diese Wahlfreiheit haben. Auf das Thema Agrarökologie war ich besonders gespannt: Was ist darunter zu verstehen und kann der Hunger auf der Erde damit verschwinden? Die Bühne im Carignano ist beeindruckend besetzt: Berkeleyprofessor Miguel Altieri (Interview eng.) lehrt und praktiziert Agrarökologie vor allem in Forschungsprojekten in Chile, anderen lateinamerikanischen Ländern und Kalifornien. Die Essenz von Agrarökologie basiert auf der Partizipation der Bauern und ist eine Anzahl von Prinzipien, die ein System für kleine Farmer, die wichtigste Form der Landwirtschaft in Lateinamerika, bilden. (Die kleinen Bauern – es sind 16 Millionen – verfügen über 20 Prozent des Farmlandes und ernähren damit die lokale Bevölkerung – und bewahren die genetische und kulturelle Vielfalt ihrer Heimat. Die großen Farmer produzieren für den Export.) Die Prinzipien beziehen sowohl traditionelles Wissen als auch moderne Agrarwissenschaft mit ein. Fazit: Hunger hat nichts mit Bevölkerungswachstum zu tun, sondern mit Zugang zu Land und der Kontrolle der Märkte. Altieris Forschung zeigt, dass Polykulturen wie in agrarökologischen Systemen das Doppelte an Ertrag im Vergleich zu Monokulturen erwirtschaften (und nebenbei für biologische Vielfalt und gesundere Ökosysteme sorgen, die resistenter gegenüber Schädlingen und Unwettern sind).

Miguel Altieri präsentiert Eckpunkte der Agrarökologie
Miguel Altieri präsentiert Eckpunkte der Agrarökologie

Mich überzeugen diese praktischen Erkenntnisse mehr, als die Versprechungen der Giganten (denen geht es nicht um biologische Vielfalt, sondern um Profit, und das ist nicht als Anklage gemeint). Muss jetzt eine Revolution her und geht es dem Kapitalismus an den Kragen? In gewisser Weise schon, indem alternative, transformative Systeme der Vermarktung geschaffen werden müssen, um die Macht der Multis zu umgehen. Fazit: Persönlich schenke ich lieber denen Glauben und ihren Argumenten Beachtung, die in Lateinamerika, Afrika und Indien mit Bauern arbeiten und forschen.

Natürlich stellt sich aus einer satten und gut versorgten europäischen Perspektive alles weniger dramatisch dar! Deshalb ist es wunderbar passend, neben Miguel Altieri noch zwei Praktikern zuzuhören. Die Inderin Anuradha Mittal ist Gründerin des Oakland Institute, das Bauern weltweit bei Landverlust unterstützt. Der Farmer Yacouba Sawadogo aus Burkina Faso erschuf das ZAI-System, bei dem in dem Dürregebiet in der Sahelzone mittels feuchtem Dung in Erdlöchern trotzdem Bäume wachsen können. Er pflanzte so einen ganzen Wald und hielt die Ausbreitung der Wüste auf! Diese Bäume dienen noch heute als Rohstoff für Medizin. Seine Weisheit: Wer sich gut um die Erde, um sein Land kümmere, der könne alles von ihr bekommen. Er hat es selbst gezeigt. Seine Motivation? „Ich liebte die Erde am meisten.“

Voler bene alla terra“ „Die Erde lieben“ ist das Motto des diesjährigen Salone. Ein Weg dies zu tun ist Gärtnern und mit Guerilla Gardening und Urban Gardening erobern die Gärten die Freiflächen der Städte und die Balkons. Neben Schönheit, Farben, Düften und nützlichem Wissen bringen Gärten so viel mehr! Nicht zuletzt beginnen wir so die intimste Liebesbeziehung mit unserer Erde 😉

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Fazit zu meinem Besuch Terra Madre Salone del Gusto 2016

Ein inspirierendes Erlebnis in einer großartigen Stadt! Ich kann jedem den Besuch der alle zwei Jahre stattfindenden Veranstaltung empfehlen. Turin zeigte sich 2016 von seiner warmen, spätsommerlichen Seite, das waren perfekte Voraussetzungen den Salone zu genießen, der erstmals unter freiem Himmel im Zentrum Turins stattfand.

Elf Konferenzen, eine Parade mit Tausenden Bauern aus der ganzen Welt, 60 Verkostungen, drei Märkte mit 900 Ausstellern aus aller Welt, vierzig Terra Madre Foren, sieben Tausend Delegierte aus 143 Ländern, 140 internationale Präsidien und 143 italienische Präsidien, tausend freiwillige Helfer, 65 Chefs, 800 italienische Weine an der Weinbar. Sechzig verschiedene Rezepte wurden in den Terra Madre Küchen gekocht. Kurzum – die weltgrößte internationale Veranstaltung zu Thema Essen. In drei Tagen lässt sich nicht alles probieren und sehen! Mein Tipp daher: Sich vorab einen groben Plan mit Lieblingsveranstaltungen erstellen! Besonders die Verkostungen sollten frühzeitig gebucht werden. Drei Tage reichen für einen ersten Eindruck, aber es lässt sich auch länger ohne Langweile in Turin verweilen!

Praktische Tipps

Anreise im Zug: In nur zwei Stunden bin ich vom Lago Maggiore aus in Turin. (Mache ich jetzt öfter!) Mein Hotel lag in der Nähe des zentralen Bahnhofs Porta Nuova, sodass ich vor der ersten Konferenz meinen Koffer schnell ins Hotel bringen konnte. Dann kam doch alles anders! Wegen eines intensiven Telefonats unkonzentriert sprang ich schon in Porta Susa (der Bahnhof weiter nordwestlich) aus dem Zug und kämpfte dann zuerst verwirrt mit meiner Karten-App (ich hätte das Hotel theoretisch vom Bahnhof aus anspucken können sollen, stattdessen gab die App mir 30 min Fußweg!). Also schnell in ein Taxi gesprungen. Der Taxifahrer war sehr freundlich und entschied auch gleich, mit weiter bis vor das Teatro Carignano zu fahren, wo die erste Konferenz bereits lief …

Tickets vorab online buchen: Vorab hatte ich mir auf der Website des Salone www.salonedelgusto.com die interessantesten Konferenzen und Foren ausgeguckt und schon einige Tickets gebucht. So musste ich mich vor Ort um weniger kümmern und vermied einige Warteschlangen. Für die meisten Verkostungen war es allerdings bereits zu spät, sie waren ausgebucht.

Bewegen in Turins Zentrum: Seit der diesjährigen Terra Madre Salone del Gusto 2016 ist die Veranstaltung an über zwanzig Orten in Turins Innenstadt präsent. Von der Einkaufsstraße Via Roma, über Piazza Castello und Piazza Carignano bis zum Parco Valentino und dem von der Universität genutzten Gebäude Torino Esposizioni. Viele Der Orte sind gut zu Fuß erreichbar! Wer mehr als einmal zwischen Konferenzen im Teatro Carignano und den Terra Madre Foren in Torino Esposizioni wechselt (zu Fuß etwa 30 min), dem empfehle ich ein Fahrrad zu mieten (Bike Sharing mit [TO]BIKE), den Shuttle Service des Salone oder Tram/Bus zu benutzen (GTT, wichtigste Linien 7, 9, 16, 18, 52, 64F und 67, alle Linien hier).

Akkreditierung für Journalisten/Blogger: Die Registrierung als Blogger war unkompliziert. Mit dem Pressepass erhält man bei freien Plätzen kostenlose Tickets zu den Konferenzen (man sollte eine halbe Stunde vor Konferenzbeginn erscheinen und sich sein Ticket abholen). Die Terra Madre Foren sind frei zugänglich. Praktisch ist der (internationale) Presseraum, wo sich gebündelte Informationen in verschiedenen Sprachen befanden. Superpraktisch waren die E-Mails und täglichen SMS mit lohnenswerten Veranstaltungen. So kann man kurzfristig umdisponieren oder ist auch ohne große Planung gut informiert.

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